Das „Original“ trägt eine majestätische Aura. Es atmet Einzigartigkeit. Aber wann ist ein Werk ein Werk?
Das deutsche Wort „Original“ stammt vom lateinischen „origo“ und bedeutet Ursprung, Abstammung, Entstehung. Der Schöpfer eines Originals in den Künsten ist ein Künstler. Bereits Renaissance-Künstler signieren ihre Werk. Im folgenden Beispiel sogar besonders originell. Auf dem Pfeil, der im Halse des Heiligen Sebastian steckt, steht:
PETRUS PERUGINUS PINXIT
„Pietro Perugina malte es.“ Unzweifelbar ist Perugino der Schöpfer, dessen Imagination und Pinsel dieses feine Meisterwerk geschaffen haben.
Und hier drei weitere „Originale“:
Giorgiones Schlummernde Venus gilt als der Prototyp des großen liegenden Frauenaktes. In die offene Landschaft drappiert liegt sie im Bildvordergrund.
Giorgione starb 1510 und hinterließ das Bild unvollendet. Sein Schüler Tizian hat dann Landschaft und Tuch vervollständigt.
Fast dreißig Jahre später hat Tizian die Gelegenheit, das Motiv wieder aufzugreifen. Die Szenerie ist in einen Innenraum verlegt. Und Tizians Venus schlummert keineswegs. Sie stützt sich auf ihren rechten Arm und schenkt dem Betrachter einen intimen Blick.
Edouard Manet kannte die Venus von Tizian. Er hatte auf einer Studienreise eine Kopie angefertigt. 1863 schuf er seine eigene Fassung: die „Olympia“.
Mit seiner Variante der Venus sorgte Manet auf dem Pariser Salon von 1865 für einiges Aufsehen. Seine Olympia zeigt sich in ganz ähnlicher Haltung. Sie ist höher im Bild gelegen und springt auf der großen hellen Fläche vor dem dunklen Hintergrund dem Betrachter fast entgegen. Ihr Kopf ist erhoben, zugleich blickt sie ins Leere. Den Treue symbolisierenden Hund von Tizian ersetzt nun die schwarze Katze. Die Pantoffeln an den Füssen betonen das Nacktsein.
Die drei Gemälde gehören zu den Ikonen abendländischer Malerei. Drei höchst originelle Bilder, die zugleich in einem engen Abhängigkeitsverhältnis stehen, dessen Kenntnis die Bilder bereichert.
Wechseln wir Jahrtausend und Genre. Wenden wir uns drei Werken zeitgenössischer Popkultur zu, die in einem ähnlichen Verhältnis zueinander stehen.
Asaf Avidan, Reckoning Song (One Day). Der Folksänger aus Israel singt über Versäumt-sein-Werdendes. Gesang und s/w-Video tragen ein melancholischen Grundton.
Ganz anders der Remix von Wankelmut.
DJ Wankelmut verschiebt das Lied in eine Welt des gegenwärtigen, lustvollen Erlebens. Das Video zeigt junge Menschen, die nicht versäumen möchten. Aus Melancholie wird ein überaus tanzbares Gefühl mit geradezu absorbierenden Wirkung. Mehr zur Rezeptionsgeschichte erzählt die Wikipedia hier.
Für den Social Media Hype des noch jungen Jahres sorgte Julia Engelmann, die eine Liedzeile aus dem Reckoning Song aufnahm und in ein anderes Genre transponierte: Poetry Slam.
Auch dieses Werk sorgte für plötzliches Aufsehen. Ein halbes Jahr schlummerte es den braven Dornröschenschlaf wie viele ungehobene Schätze auf YouTube und anderen Kanälen. Dann spülte es die große Social Media Welle nach oben. Am 15. Januar 2014 erreichte mich über twitter zufällig ein kleines Wellchen. Das hatte das Video gerade knapp 30.000 Views. Tsunamiartig wogte es bis in die klassischen Medien und verschaffte dem Video und Julia Engelmann einige Prominenz. Weit über 4 Millionen Mal wurde es in diesen letzten knapp zwei Wochen angeklickt.
Die drei Werke sind drei originelle Perlen der kurzlebigen Popkultur. Sie stehen für sich und sind trotzdem fest miteinander verwoben.
Wann ist also ein Werk ein Werk? Und wann ist ein Original ein Original? Wenn es am Anfang steht? Wenn es einen einzelnen Erzeuger hat? Wenn es am Ende einer Entwicklung, quasi als dessen Apotheose erscheint? Wenn es teuer bezahlt wurde? Am Kunstmarkt ein Vermögen einbringt? Wenn es häufig angesehen, gelesen, angehört wurde?
Ist Jeff Koons Balloon Dog überhaupt Kunst? Ein serielles Original? Monumentale Banalität? Oder zeigt das 58,4 Millionen $ schwere, aufgeblasene Hündchen nicht gerade, dass die gern gewählten Kategorien an Bedeutung verlieren. Kunst, ein Werk, ein Original ist eine Momentaufnahme. Morgen schon wird sie anders aufgenommen, interpretiert, gelesen und schließlich weitergeformt.